„Meistere meinen Alltag“: Eine junge Dresdnerin wird vom Bundespräsidenten ausgezeichnet.
Anna Wettin wurde erst mit 14 Fußballerin, drei Jahre später Nationalspielerin. Inzwischen ist die Dresdnerin die Kapitänin der Gehörlosen-Auswahl.
Keine Barriere ist unüberwindbar, sagt Anna Wettin – und liefert dafür das beste Beispiel. Die 22-jährige Dresdnerin kann eine Erfolgsgeschichte erzählen, die als Mutmacher dient. Und für die sie jetzt das Silberne Lorbeerblatt erhalten hat.
Alexander Hiller
24.11.2024, 10:00 Uhr
Dresden. Den Ort hat sie bewusst gewählt. Anna Wettin möchte im Café Tutti über der Zentralbibliothek der Städtischen Bibliotheken ihr erstes Interview überhaupt geben. Das Bücherarchiv steht ebenso für Ruhe, Gelassenheit und Unaufgeregtheit wie das Café eine Etage darüber.
Wettin genießt die Abgeschiedenheit und benötigt sie auch, um sich besser auf ihren Gesprächspartner fokussieren zu können. Die Dresdnerin ist gehörlos – und eine der besten deutschen Fußballerinnen mit diesem Handicap. Bei den Olympischen Spielen der Gehörlosen, den Deaflympics, führte die 22-Jährige das deutsche Futsal-Team in diesem Jahr zur Bronzemedaille.
Deshalb war Wettin auch zum Empfang des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier geladen, der regelmäßig die erfolgreichsten Athleten und Athletinnen des Landes mit dem Silbernen Lorbeerblatt ehrt. Das ist die höchste staatliche Auszeichnung für Spitzenleistungen im Sport. Medaillengewinner bei Olympia, den Paralympics und den Deaflympics werden damit bedacht.
Die Dresdnerin durfte die Dankesrede für die deaflympischen Athleten halten. „Ich habe erst eine Woche davor davon erfahren und habe zwei Abende gebraucht, um sie auszuarbeiten“, erklärt Wettin, die sich beim Sprechen sehr konzentriert.
Die einzige Gehörlose in der siebenköpfigen Familie
Seit 2007 trägt sie rechts ein Choclea-Implantat, ein sogenanntes CI, das sie mit der Welt der Hörenden verbindet. Links hilft zudem ein Hörgerät, „ich bin da aber zu 90 Prozent taub“, wie sie sagt. Das CI wandelt Sprache und Geräusche in kodierte elektrische Pulse um.
Diese elektrischen Pulse stimulieren den Hörnerv, das Gehirn wiederum interpretiert diesen Vorgang als akustisches Ereignis. Wettin kann somit unterschiedliche Stimmfarben auseinanderhalten. Auch die ihrer fünf deutlich älteren Geschwister, zu denen die bekannte Violinistin Katrin Wettin gehört.
Warum Anna die einzige Gehörlose in ihrer Familie ist, kann niemand wirklich beantworten. „Natürlich habe ich mich das manchmal gefragt. Aber ich meistere meinen Alltag, habe Arbeit, ein Studium, Spaß und Erfolg. Das klappt in der normalen Welt ganz gut“, stellt die junge Frau nüchtern fest.
Wir sind hier, um zu zeigen, dass keine Barriere unüberwindbar ist, wenn man an sich glaubt und die Unterstützung eines starken Teams hat.
Anna Wettin
Das Handicap wurde schon festgestellt, als sie noch ein Baby war. Für ihre Eltern, einen ehemaligen Opernsänger und eine Lehrerin, sei das allerdings eine riesige Herausforderung gewesen. „Sie unterstützen mich total“, sagt Wettin, die vom Förderzentrum für Hörgeschädigte an der Johann-Friedrich-Jenke-Schule nach der sechsten Klasse auf eine normale Oberschule gewechselt ist.
„Eine Klasse mit 25 Schülern war eine große Herausforderung für mich. Das pausenlose Zuhören hat mich erschöpft“, sagt Wettin und nennt das Hörstress. Schlechter sind ihre Noten dadurch aber keineswegs geworden. „Ich war sogar Jahrgangsbeste“, erklärt sie lachend.
Der Zugang zum Fußball verlieh ihr in dieser Zeit viel Kraft. Erst als 14-Jährige entdeckte die frühere Schwimmerin und Leichtathletin den Ballsport für sich, weil ihr das Kicken auf dem Schulhof gezeigt habe, „dass ich einen Teamsport brauche.“ Seitdem spielt sie für die SpVgg Löbtau.
Mit 17 schlüpft Wettin erstmals ins Nationaltrikot
Beim derzeitigen Spitzenreiter der Landesklasse Ost führt die Gehörlose mit zehn Toren die interne Torschützenliste an. „Ich arbeite viel mit den Augen, doch trotz des CI bekomme ich auf dem Spielfeld einiges nicht mit“, sagt Wettin, die 2019 auch dem Dresdner Gehörlosen-Sportverein (DGSV) beitrat.
„Sportlich bin ich da erstmals in die Welt der Gehörlosen eingetreten und spiele seitdem in zwei Welten. Toll, dass ich beides habe“, meint Wettin. Erst seitdem verständigt sie sich auch in Gebärdensprache.
Für Löbtau spielt Wettin nun also im normalen Fußball-Alltag, für den DGSV bei Meisterschaften – und beim Futsal-Team des SC Borea trainiert sie seit einem Jahr als einzige Frau auch regelmäßig mit. „Ich will dadurch noch besser werden im Futsal und zudem von den Jungs als gleichwertig anerkannt werden. Nur so kann ich mich verbessern, vor allem im Zweikampf“, sagt sie. Und kämpfen kann Wettin, die eine Futsal-Karriere im Schnelldurchgang erlebt.
2019 spielte sie für den DGSV ihr erstes Turnier um die deutsche Meisterschaft der Gehörlosen. Dem Bundestrainer fiel die Dresdnerin sofort auf. Noch im selben Jahr feierte Wettin ihr WM-Debüt im Nationaltrikot und dabei gleich die Bronzemedaille. Seit den Deaflympics, die im März in der Türkei stattfanden, ist Wettin nun auch Auswahl-Kapitänin – und längst noch nicht fertig.
Keine Barriere ist unüberwindbar
Nach ihrem 2,0-Abitur bestreitet sie im mittlerweile fünften Semester ein duales Studium für Sportwissenschaft. Vier Tage pro Monat muss Wettin dafür in der Berufsakademie für Sport und Gesundheit in Baunatal präsent sein, „sonst arbeite ich in einem Rehazentrum mit viel Sporttherapie“, sagt sie. Unter anderem leitet Wettin vier Rehakurse pro Woche.
Die Auszeichnung durch den Bundespräsidenten empfindet sie nicht zuletzt auch als Zeichen, „dass ich noch härter an mir arbeiten, meine Leistung steigern, Erfolge haben möchte und weiter kämpfe“, sagt sie. Die Urkunde an der Wand im Wohnzimmer erinnert sie immer daran. Und ihre Worte bei der Dankesrede, die sie in Gebärdensprache vorgetragen hat: „Wir sind hier, um zu zeigen, dass keine Barriere unüberwindbar ist, wenn man an sich glaubt und die Unterstützung eines starken Teams hat.“
Sächsische Zeitung vom 24.11.2024
Quelle: Dresdnerin vom Bundespräsidenten ausgezeichnet: Anna Wettin erhält Silbernes Lorbeerblatt
Foto: Jürgen Lösel